Muss da erst Corona kommen?
Welche Erfahrungen haben Sie bislang mit der Corona-Krise gemacht? Meine persönlichen Eindrücke ähneln sich vielleicht mit einigen Ihrer Empfindungen. Zum Beispiel: das Vermissen von Begegnungen mit Familie und Freunden. Absagen von mehreren geplanten Reisen. Schade, aber ein Erkenntnisgewinn: Ich brauche nicht so viele Abreisen. Ich lerne, meine Umgebung anders wahrzunehmen. Ich werde aufmerksamer. Und frage mich: Welche Haltung habe ich? Welche Wertschätzung? Gegenüber anderen Berufen, politischen Akteuren, gegenüber der Wirtschaft. Und ich merke: In vielen Fällen bestätigen sich Plattitüden, etwa über die Pflegekräfte, von denen wir immer schon wussten, dass sie viel zu wenig bekommen: Geld und Respekt. Und jetzt wird das endlich konkret in der Wahrnehmung. Mehr leider noch nicht. Nächste Plattitüde: Wir hinken mächtig hinterher, was Digitalisierung angeht. Seit wann wissen wir das? Da muss Corona kommen, damit die Politik kräftig investiert? Ist das nicht beschämend? Ich finde: Ja.
Woher wissen wir etwas über das Corona-Virus, die Diskussionen darüber, die Entscheidungen, die Meinungsverschiedenheiten und so weiter Bescheid? Medien haben in dieser Zeit wieder eine beachtliche Relevanz bekommen. Es ist interessant zu sehen, was sie aus den Zahlen, aus den Statements von Drosten bis Lauterbach machen. Wie sie das einordnen. Wie sie Demonstrationen mit der Mischung aus ernsthafter Sorge und Verschwörungstheorie bewerten. Wie die Abwägung zwischen Lockdown und Lockerung, zwischen Gesundheitsrisiko und Hilfe für die Wirtschaft.
Zur Corona-Krise gibt es viele gute Berichte und Analysen. Aber es gab auch weniger Gutes. Christian Drosten hat sich darüber in Bezug auf die „Bild-Zeitung“ beklagt. Lothar Wieler vom Robert-Koch-Institut sah sich sogar durch die FAZ falsch zitiert. Eine gefährliche Politisierung fand man in einer wahren, aber aus dem Zusammenhang gerissenen Schlagzeile der seriösen WELT: „Grenzschließung gilt für alle – nur nicht für Asylbewerber“ (5.4.2020). Der schmale Grat zwischen sachlicher Information und manipulierenden Akzenten ist geblieben. Ihn besser zu managen, wäre eine Konsequenz aus Corona.
Was brauchen wir an dieser Stelle an Veränderung? Von den Medien: noch ein feineres Gespür für Nuancen und Differenzierungen und ihren Wirkungen. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung ist immer unnachgiebiger, aggressiver, rechthaberischer geworden. Was der eigenen Meinung in die Quere kommt, muss um jeden Preis beseitigt werden. Kompromisse sind aus der Zeit gefallen. Dabei ist Demokratie nichts anderes als ständiger Kompromiss. Der Kompromiss ist keine Schwäche, kein unnötiges Nachgeben. Das wieder ins Bewusstsein diskutierender Menschen zu bringen, daran müssen wir arbeiten, dazu kann jeder von uns beitragen. Sofort. Und überall. Nur Mut!
Bleiben wir bei den Medien. Sie sind nach dem Ende des Sender-Empfänger-Prinzips auf die Unterstützung wacher und mutiger Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Hier müssen die Medien jetzt konsequent eine völlig neue Form des Bürger-Dialogs entwickeln: in der Vorbereitung ortsnaher relevanter Themen, in der Mitbestimmung innerhalb eines Gemeinwesens, in der Moderation wesentlicher städtischer Prozesse. Dazu gibt es bereits erfolgreiche Bürgerbeteiligungsmodelle, zum Beispiel in Ostbelgien. Greifen wir sie doch auf!
Und was lernen wir sonst noch aus der Corona-Krise? Als Wert ist sichtbar geworden, was angeblich altmodische bürgerliche Tugenden sind: gegenseitiges Vertrauen, Toleranz, emotionale Stabilität, innere und äußere Unabhängigkeit, Selbstbewusstsein, Loyalität. Wissen, Know-how. Auch mal gegen den Strom schwimmen. Standpunkte vertreten. Es gibt im Grundgesetz kein Gebot zur Zimperlichkeit. Widerspruch erhöht die Qualität der Diskussion. Mit oder ohne Virologen, mit oder ohne Politiker, mit oder ohne Experten. Alles andere ist – gefährlich.
Welche Diskussionen sind nun endlich ernsthaft beabsichtigt? Was können wir nicht mehr verdrängen? Bewahren wir uns die Sensibilität für relevante Themen? Zum Beispiel beim vor der Tür stehenden Sommerthema Dürre. Also: Wie gehen wir mit Wasser um? Was unternehmen wir lokal konkret – etwa mit einer anderen Struktur der Wasserreservoirs in den Talsperren? Und wie entwickelt sich das Thema global? Soziale Gerechtigkeit? Meine Hoffnung: Nicht nur Milliarden für die Lufthansa, sondern vor allem für das Gesundheitssystem und die Kultur.