Der Sinn des Lebens und die Kunst in Rom
Der Philosoph, Theologe und Psychotherapeut Manfred Lütz hat ein faszinierendes Buch über Rom, seine Kirchen, Gemälde und Statuen geschrieben.
Die Kombination ist faszinierend: der Sinn des Lebens und die ewige Stadt. Diese Idee basiert auf einer außergewöhnlichen Melange aus Kenntnissen, Erfahrungen, Kompetenzen, Berufen und vor allem: überraschenden Perspektiven, originellen Blickwinkeln und dem Talent, sich der Kunst in einer Intensität und Offenheit gleichermaßen zu nähern, dass man manchmal stockt, zurückblättert und gerade erst Gelesenes noch einmal liest. Manfred Lütz hat ein Werk geschaffen, das ein hochkarätiges Rom-Exponat jenseits aller touristischen Bloß-nichts-verpassen-Reiseführer darstellt und die römische Geschichte und ihre großartige Kunst zu einem wahren Lesegenuss vereint. Lütz betrachtet nicht nur Kunst, er liest sie.
Kirchen, Paläste, Gemälde, Statuen aus den römischen Epochen werden en détail beschrieben, und die Interpretationen variieren zwischen philosophischen, theologischen und psychologischen Anschauungen und führen sie am Ende zusammen. Das ist ansprechend, anregend, anspruchsvoll, kein Wunder; denn Manfred Lütz ist Philosoph, Theologe, Psychiater und Psychotherapeut. Sein Buch ist unter den vielen Bestsellern, die er geschrieben hat, ein literarisches Unikat. Darüber spreche mit ihm.
Und da soll er bitte gleich selber sagen, welche Antworten diese vielen römischen Kunstwerke auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geben, welche Ausdruckskraft sie haben und warum sie sogar ein Impetus sein können, das Leben zu ändern.
Warum soll man dieses Buch unbedingt lesen, Herr Lütz?
Manfred Lütz: Angesichts der Tatsache, dass die Kirchen sich heute selber zerlegen und die Leute angesichts der vielen Krisen nach Orientierung suchen, gibt es Gurus, die behaupten zu wissen, was der Sinn des Lebens sei. Das ist aus meiner Sicht alles unseriös. Die Idee meines Buches ist, dass man den Sinn des Lebens sehen kann, und zwar in großer Kunst, in diesem Fall in großer Kunst der Stadt Rom. Mittelalterliche Menschen konnten zumeist nicht lesen und schreiben, die haben den Sinn des Lebens nur sehen können und zwar in den Bildern der Kirchen.
Der Atheist und der Christ
Das Buch sei deshalb kein Buch für Kunstexperten und Bildungsbürger, sondern „für ganz normale Menschen; denn jeder Mensch hat Sinn für Kunst“. Jeder, der das Buch lese, werde den Sinn des Lebens ein bisschen anders sehen. „Ich hoffe, dass ein Atheist, wenn er das Buch gelesen und die Bilder gesehen hat, ein humanerer Atheist wird und ein Christ vielleicht ein besserer Christ.“
Was macht Rom, seine Geschichte, seine Kunst so einzigartig?
Lütz: Rom war so lange wie keine andere Stadt Hauptstadt der Welt – in der Antike und dann Hauptstadt der weltweiten katholischen Kirche. Deshalb haben Künstler zu allen Zeiten gerade in Rom ihr Bestes gegeben. Das macht Rom so wichtig. Unser ganzes Staatsdenken ist römisch. Den Respekt vor dem Staat und das Pflichtbewusstsein der Römer ihrem Staat gegenüber hat diese kleine Stadt in Mittelitalien geschaffen. Deswegen hat man, wenn man die Kunst der Stadt Rom sieht, die Chance, wirklich große Kunst zu sehen und nicht nur irgendwelche kleinen Capriccios.
Auch heute kann ein freiheitlicher Staat ohne die Bereitschaft seiner Bürger zu einer gewissen Uneigennützigkeit und zum freiwilligen Engagement nicht bestehen. Leiden wir aktuell in unserer Demokratie da unter einem Defizit?
Lütz: Ja, durchaus. Aber die Frage für mich als Psychotherapeuten ist immer, wie man das ändern und Lösungen finden kann.
Welche Lösungen gibt es?
Lütz: Schauen Sie sich in dem Buch den kapitolinischen Brutus an! Dem sieht man das Pflichtbewusstsein an, die Würde, die Kraft, die Entschiedenheit, sich für den Staat einzusetzen. Das war eben römisch! Heute haben wir tatsächlich das Problem, dass man sich fragt, wer unseren Staat und unsere Freiheit verteidigen würde, wenn plötzlich jemand käme und Deutschland überfallen würde. Da gibt es Umfragen, die sagen, dass es dann nicht sehr viele sind, die ihr Leben einsetzen, um hier weiter ein freies Leben führen zu können.
Kunst und Ewigkeit
In seiner literarischen Sammlung entdecken wir Bilder, die ergreifend oder berührend sein können, wenn man sie intensiv betrachtet und dazu aufmerksam die Anmerkungen liest. Diese Parallelität der Wahrnehmung ist eine Freude. Manfred Lütz: „In der Kunst begegnet man Ewigkeit. Die Menschen vor 500 oder vor 1000 Jahren haben die gleichen Probleme gehabt wie wir heute, wir sind heute nicht klüger. Deswegen kann diese Kunst auch Menschen heute berühren. Ich hoffe, dass jemand, der das Buch liest, sein Leben ändert, wenigstens ein bisschen.“
Begeben wir uns an dieser Stelle auf einen Exkurs. Der große Kaiser Augustus hatte die schwierige Aufgabe, nach Jahrzehnten der Gewalt Menschen wieder Sinn und einen Gegenentwurf zum Sittenverfall zu vermitteln. Auf Dauer hat es keinen Bestand gehabt. Irgendwann kommen Despoten wie Nero an die Macht, die alle altrömischen Tugenden über den Haufen werfen und der brutalen Gewalt wieder den Platz in der ersten Reihe der Staatsführung reservieren. Lütz schreibt von den „Trumps unserer Tage“. Der Psychiater und Psychotherapeut hält Leute wie Trump nicht für psychisch gestört, sondern für zutiefst unmoralisch.
Warum werden Leute wie Trump von Mehrheiten gewählt? Was ist so anziehend an solchen Typen?
Lütz: Das Christentum kennt einen revolutionären Satz von Jesus, den wir Christen leider nur routinemäßig als nichts Besonderes empfinden. Das ist der Satz: „Liebet Eure Feinde, tuet Gutes denen, die euch hassen.“ Diese Einstellung ist damals völlig unüblich gewesen – diese Begründung einer Humanität, die davon ausgeht, dass jeder Mensch eine Menschenwürde hat. Das Ursprüngliche ist Gewalttätigkeit gegenüber Menschen, die nicht dem eigenen Stamm angehören. Die Römer sahen im Kolosseum begeistert zu, wie Leute brutal abgeschlachtet wurden. Wir leben in einer Zeit, die von der christlichen Vorstellung geprägt wird, aber dieses Eis wird inzwischen dünn.
Konkretisieren Sie das bitte an einem Beispiel.
Lütz: Putin zeigt eine demonstrative Gewalttätigkeit. Dass der Held, der andere tötet, ein toller Hecht ist, auf dieser Klaviatur spielt Putin wieder. Wenn er einen Gegner durch Gift hat umbringen lassen, dann waren westliche Journalisten stolz, dass sie das rausgekriegt hatten. Ich glaube, dass Putin wollte, dass das rauskommt und stolz darauf ist, dass er seine Gegner tötet und dass es Anhänger von Putin gibt, die ihn wegen seiner erfolgreichen Gewalttätigkeit besonders schätzen.
Und Trump, der keine Leute tötet, wird gewählt, weil er so rücksichtslos ist?
Lütz: Trump hat ja mal wörtlich gesagt, er könne jemanden auf der Fifth Avenue in New York umbringen und würde trotzdem gewählt. Das ist in der Phantasie bei ihm also schon da.
Anspruch und Hoffnung
Zurück zum Sinn des Lebens! Zurück zu Lütz‘ Ziel, dass Lesende nach Lektüre seines Buches ihr Leben verändern, ein bisschen zumindest. Ein hoher Anspruch und eine große Hoffnung mit individuell unterschiedlicher Ausgangs- und Ergebnislage! Manfred Lütz: „Es bleibt natürlich alles offen! Das Buch sagt nicht: Sie machen jetzt Folgendes, und dann haben Sie den Sinn des Lebens gecheckt.“
Banalitäten gewinnen in unserem Alltag oft die Oberhand. Ihre Beschreibung etwa der Pietà von Michelangelo wirkt dagegen sehr erhaben. Staunen wir zu wenig, sind wir zu selten bereit, uns auf Neues, auf Überraschendes einzulassen?
Lütz: Vielleicht. Ich bin aber nicht dafür, über die schlechten Zeiten zu klagen. Die hat es immer gegeben. Ihr Ausdruck „Staunen“ ist ein Schlüsselbegriff. „Ungläubiges Staunen“ hat Navid Kermani ein Buch betitelt, das auch Kunstwerke sprechen lässt. Jeder Mensch kann staunen, Kinder können das viel besser als wir. Ich war Reiseleiter in Rom, und gerade Gespräche mit Kindern über Kunstwerke waren am faszinierendsten, fernab von jedem bildungsbürgerlichen Getue. Diese Offenheit sollen Leser des Buches einfach mitbringen.
Frage und Auftrag
Der Philosoph, der Theologe, der Psychotherapeut, der Psychiater beantwortet die Frage nach dem Sinn des Lebens jeweils anders. Wie bekommt er, der alle diese Berufe ausübt, das zusammen?
Lütz: Das passt nur zusammen, indem man es trennt. Wenn man Seelsorge und Psychotherapie vermischt, wird man ein Guru, der Leute manipuliert, das darf man nicht. Als Psychotherapeut verwendet man effektive Methoden, um Symptome wegzumachen. Das ist die Aufgabe. Aber man darf nicht versuchen, Menschen den Sinn des Lebens mit Methoden zu suggerieren, dann würde man sie manipulieren.
Ist es die Aufgabe des Philosophen oder des Theologen?
Lütz: Philosophie hat immer schon mit der Frage nach dem Sinn des Lebens zu tun und die Theologie in gewisser Weise auch. Und wenn die Kirchen für viele Menschen heute keine überzeugenden Antworten mehr vermitteln, dann kann es doch vielleicht die Kunst, davon bin ich überzeugt. Ich habe mich sozusagen mit Michelangelo, Rafael, Bernini und anderen großen Künstlern verbündet, um den Leserinnen und Lesern die Möglichkeit zu geben, angesichts dieser großartigen Kunstwerke ihren ganz persönlichen Sinn im Leben zu finden. Insofern ist das ein Buch für 80 Millionen Deutsche. Es ist ein Buch zum Innehalten, damit man sich bei all den vielen Routinen, die jedem Menschen so viel Lebenszeit kosten, fragen kann, was das Ganze soll und was einem wirklich wichtig ist im Leben. Ich hoffe, dass jeder, der das Buch liest, von den Kunstwerken in der Seele berührt wird und dann vielleicht sein Leben ändert, vielleicht nur ein ganz klein wenig.
Der Autor
Seit 50 Jahren kennt Manfred Lütz Rom, zwei Jahre hat er dort selbst gelebt und als Student Menschen durch Rom geführt. Der Bestseller-Autor sieht in der Kunst den höchsten Ausdruck von Sinn und zeigt in seinem Buch, wie man den Sinn des Lebens in diesen großartigen Kunstwerken sehen kann. Der Sinn des Lebens, Hardcover, 368 Seiten, 155 Farbfotos, mit einem Geleitwort von Elke Heidenreich, Kösel-Verlag, 30 Euro.
Der Text ist am 20. März in der Aachener Zeitung erschienen.
Ein Gedanke zu „Der Sinn des Lebens und die Kunst in Rom“
Danke für den Hinweis auf das jüngste Buch von Manfred Lütz. Dieser hat (in:
Die Tagespost 28.03 . 24 Feuilleton, S.17) gute Argumente genannt , warum die Pietà das Christentum sichtbar machen könnte. Allerdings müssen kunsthistorische Interpretationen (wie z.B. die von Horst Bredekamp, der uns tiefe Einblicke in die seelische Verfasstheit eines unsterblichen Künstlers liefert ) nach wie vor an erster Stelle stehen.