Die Wahl. Die Qual. Europa.
Was macht Europa aus seinen Ressourcen, seinen Talenten, seiner Intelligenz, seiner Kultur? Welche Allianz schmiedet es in der globalen Welt, die in einer atemberaubenden Rasanz individuelle Lebensentwürfe und kollektive Zukunftsperspektiven bedroht, auf den Kopf stellt und zuweilen völlig zerstört? Welche europäische Avantgarde aus Technologie, Kunst, Wissenschaft, Ökonomie und Ökologie ist unermüdlicher Garant für die Souveränität unseres Kontinents? Welche Könner, welche Andersdenkenden, die Freude am Diskurs, an Entwicklung, an Zuversicht haben, sorgen für die Wende und machen Europa wieder stark?
Wir sind längst in die Falle einer unsäglichen europäischen Operette geraten, stecken fest in den Inszenierungen an Bedeutungsschwere leidender Politdarstellerinnen und -darsteller aus aller Herren und Damen EU-Ländern. Der Zustand der Europäischen Union ist wenige Stunden vor der Europawahl ein wirkliches Drama, und der zu befürchtende Rechtsruck wird keine Lösung, sondern allenfalls ein weiteres Desaster sein.
Politische Kultur verslumt
Es stimmt schon traurig zu beobachten, wie sich eine rechtsradikale Partei namens AfD mit ihren „Spitzenkräften“ zerlegt und dennoch in den Umfragen an Zustimmung nichts einbüßt. Dies ist ein alarmierendes Zeichen dafür, wie unsere demokratische und politische Kultur verslumt.
Die in Deutschland regierenden Parteien sind auf erbärmliche Werte gesunken, die Union, die unverdrossen Ursula von der Leyen plakativ propagiert, pendelt um die 30 Prozent. Deutschland spielt in Brüssel keine große Rolle mehr, und wer das bestreitet, sollte sich mit Franzosen, Niederländern, Belgiern und – konkret – einem Europäer wie Jean Asselborn, dem ehemaligen luxemburgischen Außenminister, unterhalten. Eine so mutlose, so konturenfreie und undiplomatische Außenpolitik derzeitiger Berliner Provenienz ist ja etwas Seltenes und deshalb kaum Fassbares. Deutschland leidet auch in diesem Bereich unter einer selbst verschuldeten Malaise.
Das Drumherum-Reden
Das Drumherum-Reden, dieses unsägliche Scholzen, wird nicht durch ein paar Sätze im Bundestag beendet, die im Nebel des üblichen Ungefähren tatsächlich mal konkret wirken. Das hat erfahrungsgemäß keine lange Haltbarkeitsdauer. Europa braucht Klartext, weil es von einer Welle des Populismus, der Rücksichtslosigkeit und der Abwesenheit von Respekt überschwemmt wird. Das raubt in den Debatten über dringend notwendige Veränderungen etwa in der Migration manchen die politischen Sinne. Ein eklatanter Mangel an Kompromissfähigkeit, Einsichtsfähigkeit und Lösungsfähigkeit hat sich längst und unnachgiebig auf dem Centre-Court der Schlagwort-Auseinandersetzung breitgemacht.
Verlierer sind – im sozialen Europa – die Menschen, oft gerade die jungen, die auf dem Ketten-Karussell der beschleunigten Global-Gesellschaft das Tempo nicht mithalten. Die nicht früh genug in die neuen Umlaufbahnen der digitalen Achterbahnen umgestiegen sind. Der Kapitalismus dieser (Un)Art räumt ziemlich rüde mit Traditionen und lieb gewonnenen Gewohnheiten auf. Wer geglaubt hatte, der tiefgreifend veränderte Kommunikations- und Wirtschaftsstil sei nur Phantasie und Spinnerei ist ziemlich unsanft gelandet – auch in den Parlamenten und Regierungen. Autorität entsteht nicht mehr im Lederfauteuil-Ambiente. Gefragt sind Geistesgegenwart und Beweglichkeit. Und, vor allem: Haltung. Und Mut.
Kampfeslust. Für uns.
Und gewiss auch: Kampfeslust. Für Europa. Für uns.
Und am Sonntag – bei der Wahl? Nicht zu wählen, ist trotz allem die schlechteste aller Möglichkeiten. Nein: Noch schlechter ist die Wahl der radikalen Vereinfacher und Großmäuler. Also: Faust in der Tasche – und sei es für das berühmte kleinere Übel!
Die Welt verändert sich, und wer da mithalten will, soll sich gefälligst darum bemühen! Auch im Wahllokal.
Motiv Titelbild: Emil Ciocoiu