Abschied vom Idealismus
Am 19. Dezember wird der Aachener Karlspreis 75 Jahre alt. Dazu ein Interview mit Dr. Jürgen Linden, Vorsitzender des Karlspreisdirektoriums (Foto) seit 2010, über die Bedeutung des Preises, die Ausgezeichneten und die Veränderungen im Laufe der Jahrzehnte. „Wir haben uns von einem Großteil unseres Idealismus befreien müssen“, sagt Jürgen Linden.
War die Situation Europas jemals so schwierig wie in der aktuellen Lage, und welchen Einfluss hat das auf den Karlspreis?
Jürgen Linden: Schon seit einigen Jahren ist es schwierig, Karlspreisträger auszuzeichnen, die eine positive Botschaft für die Zukunft vertreten. In den 90er Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gab es dagegen eine unglaubliche Euphorie. Man hatte das Gefühl, Europa könne als Kontinent nachhaltig zusammenwachsen.
Wann gab es den entscheidenden Stimmungsumschwung?
Linden: 2008 mit der internationalen Finanzkrise. Da spürte man eine gewisse Anfälligkeit, erst die Probleme der nationalen Budgets in Europa, dann später die Flüchtlingskrise, dann der Brexit, dann der Krieg gegen die Ukraine. Europa hat nach einer positiven Welle jetzt mit erheblichen eigenen Problemen zu kämpfen. Hinzu kommt der Anti-Europäismus in verschiedenen Ländern mit dem Rechtsruck etwa in Italien, Österreich, den Niederlanden, aber auch bei uns in den Landtagswahlen.
Es ist immer schlechter geworden, werden Sie als Vorsitzender des Direktoriums allmählich resignativ?
Linden: Die Gründer des Karlspreises hatten kurz nach dem Krieg eine viel schwierige Situation als wir heute – in einer zerbombten Stadt, mit geschlossenen Schlagbäumen zu den Nachbarn, und der Kalte Krieg hatte Europa kontinental in zwei Blöcke geteilt. Heute ist der Großteil der Bevölkerung proeuropäisch eingestellt. Deshalb ist Resignation mit Sicherheit nicht angesagt.
Aber anders als 1949/50 wählen heute rund ein Drittel der jungen Menschen rechtsextrem. Das ist gewiss ein Thema für den Karlspreis, wenn man über die Perspektive Europas nachdenkt.
Linden: Wenn ich an Interrail denke oder an das Erasmus-Plus-Programm, dann sind es vor allem die jungen Leute, die hinsichtlich ihrer Mobilität, ihrer Ausbildung, ihrer Sprachentwicklung stark von Europa profitieren. Ja, es stimmt: Man muss in der Bewusstseinsfrage viel mehr tun, um Überzeugung zu leisten. Wir haben bei der akademischen Jugend ein weniger großes Problem. Die übrige Jugend wird jedoch nicht ausreichend einbezogen.
Kann der Karlspreis dazu beitragen, das zu ändern?
Linden: Wir machen uns viele Gedanken darüber, wie der Karlspeis Auszubildende und die breite Mittelschicht mit seiner Idee überzeugen kann. Da ist tatsächlich eine Schere, die sich in den letzten Jahren weit geöffnet hat und die es zuzuklappen gilt.
Werden diese Gedanken in konkreten Maßnahmen spürbar werden, und welche Rolle spielt der Jugendkarlspreis?
Linden: Der Jugendkarlspreis ist seit 2008 eine Erfolgsgeschichte. Wir haben inzwischen ein großes Netzwerk bilden können, die jungen Leute korrespondieren auch außerhalb ihres Aufenthalts in Aachen ständig miteinander und entwickeln Aktionen und Projekte. Zusätzlich haben wir die Akademie gegründet, die europäische Zukunftsfragen wie Erweiterung, Luftfahrt oder Wasserbevorratung wissenschaftlich erarbeiten soll. Und wir denken mittelfristig darüber nach, Projekte junger Menschen in Europa direkt zu unterstützen. Der Schwerpunkt ist also sehr auf junge Menschen gerichtet, während der Karlspeis früher eher eine Belobigung für Lebensleistungen war. Davon sind wir ein Stück weit weg.
Bei der Gründung wurden besonders die europäischen Werte hervorgehoben. Was ist angesichts von Orbán, Le Pen, Wilders, Meloni, AfD davon in der EU noch geblieben?
Linden: 1949 wurde der Wertekanon noch entwickelt. In den Römischen Verträgen 1957 hat man dann erstmals versucht, einen solchen Kanon festzuschreiben. Die Werte sind schließlich im Gemeinschaftsvertrag festgehalten worden, und die Mitglieder der EU sind daran gebunden. Zugegeben: Das ist zunächst nur Papier. Die Realität, diese Werte zu verteidigen, ist in vielen Ländern eine andere geworden. Das betrifft die Gleichwertigkeit der Menschen und bestimmte Freiheitsrechte, bei denen es Einschränkungen gibt. Man muss dagegen halten! Das EU-Parlament tut das in seiner Mehrheit immer wieder. Und wir tun es auch mit entsprechenden Veranstaltungen und Resolutionen anlässlich des Karlspreises.
Der Karlspreis-Gründer Dr. Kurt Pfeiffer formulierte wörtlich, dass der Karlspreis „in der Regel für besondere Leistungen verliehen wird“. Gibt es in Ihrer Erinnerung Fälle, in denen die Regel außer Kraft gesetzt war und jemand den Karlspreis bekam, der ihn gar nicht verdient hatte?
Linden: Das will ich nicht beurteilen. Es gab ja öffentliche Kritik an mancher Verleihung. Aber der Karlspreis ist insgesamt ein Erfolg für Europa.
Aha. Gab es denn Fälle, in denen man – salopp gesagt – vergessen hat, würdige Persönlichkeiten auszuzeichnen?
Linden: Beispielsweise Willy Brandt, Olof Palme, Mário Soares. Mit dieser Kritik muss man leben, manchmal kann man aus ihr sogar lernen. In den letzten 20, 30 Jahren war es weniger die Lebensleistung, die belobigt worden ist, sondern die Botschaft des Preisträgers, auch in Zukunft Engagement zu zeigen. Das ist sicher auch mal danebengegangen, wie bei Gro Harlem Brundtland. Die erhielt den Preis, um das Referendum in Norwegen positiv zu beeinflussen, das wurde leider von den Norwegern nicht so gesehen.
1987 kam es wegen der Verleihung an Henry Kissinger zum offenen Bruch mit SPD und Grünen, die aus Protest das Direktorium verließen. Was hat sich seitdem verändert?
Linden: Der Karlspreis heißt seitdem „Karlspreis zu Aachen“, vorher war er der „Karlspeis der Stadt Aachen“. Es gibt Veränderungen in der Zusammensetzung des Direktoriums, damals waren es zwölf, inzwischen sind es 19 Mitglieder. Die Besetzung zwischen Gesellschaft und Stadt ist paritätisch. Seit 1989 hat der Karlspreis deutlich wahrnehmbar auch den Krönungssaal verlassen und ist nach draußen gegangen: mit seinem Rahmenprogramm, mit dem Open-Air auf dem Katschhof, mit Veranstaltungen außerhalb der Region Aachens, etwa in Brüssel und Maastricht.
Hat sich die Art und Weise der Beratungen im Direktorium verändert?
Linden: Wir haben Argumentationspapiere zu jedem einzelnen Kandidaten, wir haben eine Klausur am Ende der Debatte und kommen nicht nur mit der Einzel-Meinung zusammen, sondern schauen gemeinsam darauf, was dieser Preis letztlich für Europa und die Stadt bedeutet.
Wie ist die Atmosphäre in diesem Direktorium, gibt es Streitgespräche konstruktiver Art, oder gibt es auch massive Auseinandersetzungen?
Linden: Wir sind politisch heterogen zusammengesetzt. Es sind viele Richtungen, natürlich auch parteilose, vertreten. Und es sind viele Berufsschichten vertreten. Das war früher anders. Von daher gibt es unterschiedliche Auffassungen. Bis auf eine sehr vehemente Auseinandersetzung vor mehr als einem Jahrzehnt kann ich mich nicht erinnern, dass in irgendeiner Form die Sachlichkeit verlassen worden wäre. Wir sind immer um die richtige Entscheidung und am Ende der Klausur um Einmütigkeit bemüht.
Bei der Verleihung an Wolodymyr Selenskyj gab es zumindest Diskussionen über den Zeitpunkt der Verleihung mitten in einem Krieg. Wie bewerten Sie das heute?
Linden: Selenskyj war nicht nur eine intensive Diskussion, sondern auch ein langwieriges Verfahren bezüglich der Annahme aufgrund der Kriegssituation, der Erreichbarkeit und ähnlichem. Die Diskussion hat für den Karlspreis gezeigt, dass er sich in seiner europapolitischen Idee von allen Schönfärbereien und zu einem Großteil auch von seinem Idealismus befreien musste, weil die Realität in Europa eine andere geworden war. Die Frage der Wehrtüchtigkeit Europas haben wir gesamtgesellschaftlich jahrzehntelang nicht diskutiert. Das sind Akzente, die die Haltung des Direktoriums berühren.
Was bedeutete das konkret bei der Entscheidung für Selenskyj?
Linden: Die Entscheidung für Selenskyj, als der Krieg noch in der Anfangsphase war, war ein Zeichen des Karlspreises auch dafür, dass Europa insgesamt wehrfähiger, verteidigungstüchtiger und letztlich aufmerksamer sein muss in Bezug auf denkbare Angriffe, die dieser europäischen Einheit drohen. Es war auch ein Signal für eine gemeinsame europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Bei Kissinger wurde damals von SPD und Grünen vor allem kritisiert, dass er symbolisch für die NATO stehe…
Linden: Klar, aber man darf auch durch Erfahrung seine eigene politische Einstellung verändern, die man dann mit ins Direktorium nimmt. Die Gründe der Veränderung liegen in der Realität. Gerade bei Selenskyj haben wir uns, wie gesagt, von einem Großteil unseres Idealismus befreien müssen.
Was macht in der aktuellen Situation die Faszination des Karlspreises noch aus?
Linden: Er ist die renommierteste politische Auszeichnung in Europa und für den jeweiligen Preisträger ein Zeichen dafür, dass seine politische Position unterstützt wird. Das nehmen viele sehr dankbar an. Ich kann das so frech behaupten, weil ich derjenige bin, der die Preisträger jeweils persönlich anruft, um sie zu fragen, ob sie den Preis annehmen.
Welcher Karlspreisträger oder welche Karlspreisträgerin hat Sie am meisten beeindruckt?
Linden: Für mich ist nach wie vor die Verleihung an Václav Havel 1991 eine der außerordentlich beeindruckenden gewesen. Havel war die Symbolfigur im Ostblock, die Aachener haben Havel unglaublich gefeiert. Am Vorabend standen mindestens 10.000 Menschen auf dem kleinen Platz am Hühnerdieb und jubelten ihm zu. Er war übrigens, als das Rauchen im Rathaus schon verboten war, der einzige, der dort noch rauchen durfte.
Fotos: Bernd Mathieu; Gemälde (Ausschnitte): Emil Ciocoiu
Das Interview ist in der Dezember-Ausgabe des Stadtmagazins BAD AACHEN erschienen.